So wie jede Begebenheit in unseren
Leben einen Sinn hat, so auch die, dass wir zusammenfanden und
auseinandergingen, ohne uns je zu vergessen.
Sie trafen sich am
Freitag an der Pyramide, nachdem sie aus der Normandie zurückgekehrt
war, voller Blüten und voller Eindrücke, und begingen nach einer
Pause am Café am Platz die ganze Stadt. Aber sie waren nicht
getrieben, wie all die anderen um sie herum.
Sie flanierten, wo
möglich, und sogen das Flair der Stadt auf, die so lange die ihre
gewesen war, und das nicht nur, da sie sie, zusammen mit ihrer
Familie als kleinstes Kind für eine kurze Zeit ihre Heimat hatte
nennen können.
Und sie wusste,
dass er am nächsten Tag wieder würde aufbrechen müssen und sie
wusste nicht, ob sie sich darüber hätte freuen oder traurig sein
sollen. Die Wohnung war die ihre gewesen, und das hatte ihr gefallen.
Aber sie freute sich auch über seine Präsenz.
Sie hatte sich
schließlich für ihn entschieden – trotz allem.
Den Abend mit ihm
zu beenden und zu beginnen, das gefiel ihr, trotz ihrer
Unabhängigkeit, die sie auf ihren endlosen Reisen zu schätzen und
zu lieben gelernt hatte.
Am nächsten Morgen
erwachten sie, schläfrig von der Liebe der Nacht.
Sie
blickten aus dem Fenster. Das heilige Herz glänzte golden in
der Sonne, die durch die Wolken brach. Sie war sehr warm. Zu warm für
einen Tag im September. Und sie fühlte sich zurückerinnert an eine
Episode aus dem vergangenen Jahr, als sie an der Schulter eines
Mannes lehnte, der sie am Vortag noch hatte verlassen wollen, und es
doch nicht tat. Denn das Meer hatte ihnen dazu geraten. Das Meer, das
im pastelligen Abendlicht mit dem Horizont zu verschmelzen schien.
Und sie erinnerte sich an ihre
Sonnenbrille, die ins Wasser fiel. Und wie sie sich in die Arme
gefallen waren.
Der Himmel erschien ihr an diesem Tag
auch wie ein Meer. Endlos und voller Wolken, durch die das Licht
brach, und die den Himmel immer schon weitläufiger erscheinen
ließen, als er es ohne sie war.
Aus dem Handy ertönte Madeleine
Peyroux Stimme.
„Ich möchte den Rest meines Lebens
mit dir verbringen.“ Ohne etwas zu erwidern nahm sie ihn in die
Arme. „Ok“, sagte sie. „Ich habe lange nachgedacht“, fuhr sie
fort, „und ich habe mich für dich entschieden.“
Sie bemerkte, dass Tropfen auf meine
Schulter fielen. „Warum weinst du denn“, fragte sie ihn. „Vor
Glück“, erwiderte er.
„Lass uns bitte immer ehrlich
zueinander sein“, sagte er nach einiger Zeit. Die Umarmung war noch
nicht zu Ende, das Lied allerdings schon. „Lass uns das, was wir
haben bewahren und uns nicht verletzen.“
„Das verspreche ich dir“,
antwortete sie. Sie dachte an den Mann, den sie für ihn vergessen
hatte.
„Wenn ich einen Ring hätte, dann
würde ich ihn dir jetzt anstecken, aber ich habe keinen.“
„Das ist mir gleich, und das weißt
du auch. Ich gebe nichts auf Materielles. Es ist nur Material. Ich
will Gefühl. Und ich weiß, was du für mich fühlst. Damit würde
mir auch ein Ring aus dem Kaugummiautomaten reichen.“
[…] Als der Zug sich vom Gare de
l'Est aus in Richtung Heimat aufmachte, dachte sie nach. Sie dachte
an ihn und an den anderen und daran, was die Leute über Paris
sagten. „Die Stadt der Liebe“ nannten sie sie. Was für ein
Irrsinn. Paris war nicht die Stadt der Liebe.
Paris war laut und wild und hektisch.
Paris war dramatisch und abenteuerlich. Paris war der Ort der
Entscheidungen.
Sie hatte sich für den Mann
entschieden, der Anfang des Jahres in ihr Leben getreten war, denn es
war die beste Wahl, die sie treffen konnte. Sie war realistisch.
Er war treu. Er war gutmütig.
Vielleicht etwas zu naiv. Aber er liebte sie und er sagte es … auch
wenn es zu einer Zeit kam, in der sie sich von ihm fortbewegt hatte.
Er hatte ihr Fortgehen bemerkt und wollte sie daran hindern. Er
wollte alles dafür tun, dass es nie mehr so weit kam. Und er zeigte
genau das. Folgte ihr nach Paris, in ihre ausgelagerte Heimat, die
wieder Heimat geworden war, trotz allem, was dort passiert war.
Er reiste ihr mit dem Zug hinterher und
hielt sie fest.
Und reichte das nicht, um glücklich zu
sein? Braucht man denn wirklich so viel, von einem Was-auch-immer?
Braucht es wirklich so viel?
Sie würde ihn wieder lieben können.
Sie könnte es schaffen.
Die Leute sagten immer, dass man nichts
erwarten sollte. Dann fällt einem alles zu. Aber war das wirklich
wahr?
Ihre Mutter sagte ihr irgendwann
einmal, dass … dass immer einer mehr liebt als der andere, und dass
das der Mann sein sollte. Es erspart einem so viel Leid.
Sie hatte genug gelitten in ihrem
Leben, und das wollte sie nie wieder.
Aber könnte es denn nicht auch so
sein, dass man, wenn man nichts erwartete, auch nicht das bekam, was
man haben wollte? Dass man nicht das bekam, was man sich wünschte?
Sollte man nicht viel mehr erwarten,
dass man das bekommt, was man sich wünscht und danach streben,
danach suchen?
Sie wusste die Antwort darauf nicht.
Aber die Entscheidung war gefallen. Sie
wollte frei sein für ihn. Den Mann, der ihr sagte, dass er sie
liebte, und der sie heiraten wollte.
Tage später besuchte er sie in meiner
kleinen, viel zu teuren Wohnung und kochte für ihn. „Mach mal die
Augen zu“, sagte er. Sie tat, um was er sie gebeten hatte und
bemerkte, wie er hinter sie trat. Ich spürte etwas Kühles,
Metallenes, das sich an ihren Hals schmiegte.
Im Spiegel sah sie, was es war: eine goldene Kette mit einem Anhänger. Ein Herz, an das sich links und
rechts ihre Initialen schmiegten.
„Das ist das einzige vergoldete, das
ich gerade finanziell tragen kann. Aber deinen Ring bekommst du
trotzdem.“ Und eben diesen steckte er ihr an den Finger.
„Ein Ring aus dem Kaugummiautomaten“,
sagte sie.
„Ja! Du sagtest ja, dass du einen
haben willst.“
Sie lachte, fiel ihm um die Arme und
küsste ihn – und das Essen war vergessen.
[...]
Er schrieb ihr. Er schrieb ihr nahezu
jeden Tag und sie dachte sich, wenn sie Freunde sind, dann würde es
nichts geben, das man verstecken müssen. Also schrieb sie ihm
zurück. Und er schrieb ihr zurück. Und sie schrieben sich nahezu
jeden Tag, immer. Von morgens bis abends. Sie schrieb ihm, auch wenn
sie bei ihrem Verlobten war. Er fragte sie eines Tages mit wem sie
sich denn so viel unterhielt und sie sagte: „Mit einem Freund.“
Er stellte keine weiteren Fragen.
Sie schrieb ihm und sie freute sich
über jede Nachricht, die er ihr zukommen ließ.
[…]
Er war den ganzen Abend lang nicht
erreichbar gewesen. Wahrscheinlich war sein Akku dieses Mal wirklich
zur Neige gegangen. Er vergaß so oft, sein Handy aufzuladen und sein
Akku zeigte oft nur noch 1% an – dieses eine Prozent war allerdings
besonders hartnäckig und schien immer besonders lange zu halten.
Manchmal sogar stundenlang. Und dann ging es erst aus, als sie wieder
bei ihm waren.
In letzter Zeit ging sein Handy öfter
mal aus. Es machte ihr nichts aus. Sie war beschäftigt, bespaßte
Schüler, traf Freunde, oder schrieb ihm.
An diesem Abend war es anders. Er
erinnerte sie von ihrem Gefühl an den Abend, als er mit seinen
Freunden, und der Kellnerin unterwegs war, die ein Auge auf ihn
geworfen hatte. Den ganzen Abend lang hatte sie sich furchtbar
gefühlt, konnte nicht einschlafen. Dass er ausgegangen war, erfuhr
sie allerdings erst am nächsten Tag. Und dass er viel zu viel
getrunken hatte. Und dass die Kellnerin seine Schlüssel geklaut
hatte.
Auch wenn ihre Gedanken in die Ferne
schweiften und sich dort sehr wohl fühlten, hatte sie ein ungutes
Gefühl. Aber warum sollte sie das haben – er war schließlich mit
ihr verlobt.
Sie schlief schlecht ein, wie an dem
Abend vor vielen Monaten. Als sie morgens auf ihr Handy sah, sah sie
die Benachrichtigung einer neuen Nachricht.
„Guten Morgen mein Schatz“, schrieb
er. „Mein Handy ging gestern aus. Ich habe wieder vergessen, es
aufzuladen. Upps! Wir waren gestern noch unterwegs.“
Sie begann zu tippen „Ja, das habe
ich mir gedacht. Warst du mit M. unterwegs?“
„Ja, der war auch dabei. Es war ein
super Abend.“
„Wo ward ihr denn?“
Und dann las sie es. Sie waren in dem
Restaurant, dessen Namen sie nicht mehr hören wollte. Und den Namen,
den sie nicht mehr lesen wollte.
„Sie war auch dabei?“
Sie fühlte den Ärger in sich
aufkochen.
„Ja. Ich wollte es dir eigentlich
nicht sagen, da ich weiß, wie eifersüchtig du bist.“
Sie erwiderte nichts.
„Aber es ist nichts passiert. Sie hat
sich von mir ferngehalten.“
„Das mag ich doch hoffen“,
erwiderte sie trocken. Glauben konnte sie es allerdings nicht. „Wie
lange ward ihr denn unterwegs?“
„Bis um 4, wir sind dann noch durch
die Stadt getingelt.“
„Zu dritt“, fragte sie.
„Nein, zu zweit“, schrieb er. Sie
wollte nicht wissen, mit wem er diese Zweisamkeit genossen hat. Es
war genug. Sie konnte es verdrängen.
Sie musste es.
Musste sie?
„Du schreibst ihm mehr als A.“,
stellte ihre Freundin auf der Insel fest, nachdem sie auf die Frage,
mit wem sie schrieb geantwortet hatte.
„Das stimmt“, gab sie zu. „Aber
wir sind Freunde.“
„Seid ihr das wirklich?“
Nein. Sie konnte es nicht länger verbergen. Ihren Missmut über ihn, was er getan hatte. Ihre Gefühle, die sie versucht hatte, zu verdrängen, und die ihr durch einen Ausspruch ihrer Freundin mit einem Male bewusst geworden waren.
„Schau“, sagte sie ihrer Freundin
und zeigte ihr Handydisplay. „Er schickte mir ein Foto seiner
Nichte. Sie sind gerade in Wien.“
„Mhm“, entgegnete ihre Freundin mit
einem Blick auf das Display. Dann sah sie ihre Freundin lange und
nachdenklich an. „Oh meine Liebe“, sagte sie langsam. „Pass nur auf,
dass der sich nicht auch noch in dich verliebt.“
„Was“, rief sie. „Das passiert
nicht! Das will ich nicht!“
Und dann dachte sie daran, ob es passieren könnte. Und ob sie das, im Grunde ihres Herzens, nicht doch wollte.
Nein, sie konnte es nicht länger
leugnen. Sie konnte sich nicht länger verleugnen. Und da sie sich nicht länger verleugnen konnte, konnte sie
es auch nicht länger ertragen, im goldenen Käfig sitzen zu müssen – geschweige denn
ihn zu tragen.
Und so nahm sie die Kette ab, legte sie auf den Sand, der noch warm von der Sonne war. Es war Herbst, doch die Sonne erinnerte sich noch zaghaft an den Sommer, der allmählich verging. Sie blickte eine Ewigkeit auf das goldene Metall, das im Licht reflektierte, und fasste dann ihren Entschluss.
Und so nahm sie die Kette ab, legte sie auf den Sand, der noch warm von der Sonne war. Es war Herbst, doch die Sonne erinnerte sich noch zaghaft an den Sommer, der allmählich verging. Sie blickte eine Ewigkeit auf das goldene Metall, das im Licht reflektierte, und fasste dann ihren Entschluss.
Sie warf so viel Sand auf die Kette, bis sie nicht mehr zu sehen war.
Wie auch sie war der Eine aus den
Augen, der Andere wieder im Sinn. Und dort sollte er bleiben.
Dort würde sie ihn immer verwahren.
Sie hatte ihm bereits vor Monaten ihr
Herz geschenkt, und das wollte sie nun nicht mehr schweigen lassen.
Kein anderer Mann sollte es erhalten. Sie würde ihre Liebe in ihrem
Herzen verwahren, bis er sich ebenso für sie entschieden hätte.
[…]
Er beobachtete ihren Hals, sagte aber
nichts. Instinktiv griff sie an die Stelle, an der das Herz gewesen
war. „Was ist denn?“
„Du trägst die Kette nicht“,
bemerkte er.
„Ich habe sie verloren“, log sie.
Er erwiderte lange nichts. „Liegt es
an mir? Liegt es an dem Abend, an dem ich mich nicht gemeldet hatte?“
„Nein“, sagte sie. „Es liegt an
mir.“
Sie zögerte, holte tief Luft und
sagte: „Und ihm.“
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